Valérie Favre
Thomas Hirsch
Valérie Favre malt. In der Regel mit Ölfarbe auf Leinwand, diese aufgezogen auf Keilrahmen, vom kleinen Format bis zum monumentalen, drei- oder mehrteiligen panoramatisch ausgerichteten Maß. Der malerische Vortrag löst sich stellenweise von der realistischen Lesbarkeit, diese Partien sind abstrakt oder sogar reine Farbmalerei. Der Duktus ist expressiv und die Farbe ist manchmal pastos aufgetragen. Mitunter scheint es, als würden die Figuren und Formen aus der Farbmaterie herausgeschält und zugleich in diese eingebettet und als wären sie noch mitten in der Gestaltwerdung begriffen. Valérie Favres Malerei impliziert die Kommentierung ihrer Mittel mit der Frage, wann ein Bild „fertig“ ist und seine Geschichte erzählt ist. Die Prima Idea bleibt den Bildern geradezu eingeschrieben, aber der Reigen der Figuren und damit die Story können sich als Teil des Arbeitsprozesses, der sich über ein, zwei oder mehr Jahre hinziehen kann, ändern.
Valérie Favre hat in ihrer Malerei eine Bildsprache zwischen Zuständlichkeit und Narration, Offenlegung und Geheimnis, Anekdote und existenzieller Befragung entwickelt, bei der die Sujets und deren Temperierung eng mit dem gehaltlichen Spektrum korrelieren. Feine Anspielungen liegen ebenso vor wie direkte Anleihen aus unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Eine wichtige Quelle ist die Kunstgeschichte, der sie sich mit befreiender Leichtigkeit annimmt, denken wir nur an das malerische Verschmelzen zweier Selbstporträts aus verschiedenen Epochen in der Werkgruppe „Le S?urs malades“ (1998-1999) oder ihre Referenzen an Géricaults „Floss der Medusa“ im Rahmen einer Installation, die Farbmalerei und einen per Video aufgezeichneten vielstündigen Monolog zusammenführte („Les restes de la Méduse“, 1997), und an Caravaggios „Kartenspieler“ allein im Verbergen einer Spielkarte hinter dem Rücken in „Secret Service for the Queen“ (2008). Ein tradiertes Bildrepertoire, ein vertrauter ikonographischer Kanon und zeitgenössische Topoi führen in vielfältigen Verknüpfungen zu einer Kombinatorik im Radius von Realität, Surrealität, Virtualität und Traum: als Komprimieren von Ereignissen und Schichtung von Zeitabläufen. Damit thematisiert Valérie Favre Aspekte unserer inneren Verfasstheit und physischen Existenz ebenso wie brennende gesellschaftliche und geopolitische Anliegen, wie 9/11, die Digitalisierung, Genderfragen und kulturelle Zuweisungen, die Folgen des Kapitalismus, die Flüchtlingskrise. Die Malerei tritt dabei als autonome Sensation von virtuoser Wucht und substanzieller Pracht auf. – Das ist um so bedenkenswerter, als Valérie Favre kategorisch nicht zwischen Figuration und Abstraktion unterscheidet, auch gänzlich gegenstandsfreie Bilder malt und neben der Malerei – sowie Zeichnungen und Collagen und Mischformen aus diesen – Objekte, Installationen, mediale Arbeiten, noch unter Einbezug von Malerei, und Performances geschaffen hat und mit diesen Medien auch weiterhin arbeitet. Malerei ist als Äußerung verstanden, die zugleich ihre Bedingungen, ihre Geschichte und Gegenwart befragt.
Diese distanzierte und zugleich emotionale Einlassung auf die Möglichkeiten der Kunst hat ihre Vorgeschichte. Valérie Favres Malereien gehen in Paris ihre Aktivitäten als Bühnenbildnerin und als Schauspielerin sowohl im Theater als auch im Film voraus. Eine Schlüsselrolle nehmen die Filme von Jean-Luc Godard ein, in dessen Szenarium zu „Passion“ (1982) sie mitgewirkt hat: ein Film, in dem die Schauspieler Meisterwerke der Kunstgeschichte nachstellen und so nach dem Wesen der Malerei forschen. Wichtig für Valérie Favre wird Guy Debord mit seinem Buch „Gesellschaft des Spektakels“ (1967), in dem er die Mechanismen und die Verselbständigung des Konsums und der Ware in den Industriegesellschaften analysiert. Ausführlich beschäftigt sich Valérie Favre mit den Stücken von Sarah Kane und ihrer messerscharfen Beschreibung von Individuum und Gesellschaft. Bei Kane findet das Überleben über die Ritualisierung des Tuns – das um Schöpfung und dessen Auslöschung kreist – statt und ist gerade noch eine Zeit lang zu ertragen. Die Sprache als soziale Dimension wird dort zum Monolog des Eisigen, dem die Sehnsucht nach wärmender Kommunikation und Verständnis zugrunde liegt. (1)
Mitte der 1980er Jahre wechselt Valérie Favre in die bildende Kunst als Medium, in das bis heute die spezifischen Strategien des Theaters und des Films (2) einfließen. Für die Malerei – um im besonderen von dieser zu sprechen – betrifft dies etwa die Verfahren des Schnittes und der Montage, die Neukombination der Fragmente chronologischer Abläufe und die Aussparung, die Verlangsamung der Handlung, die Arbeit mit Farbsymbolik, den Monolog und den Einbezug des Publikums, die Erzählung aus dem Off ebenso wie die innerbildliche Schaffung von Abstand. Als mögliches Fundament ihrer Geschöpfe, Handlungsräume und Narrationen kommen mehr und mehr Archetypen und deren Urbilder in Frage. Nach C.G. Jung sind Archetypen die Vorstellungsmuster, die seit Beginn der Menschheitsgeschichte im kollektiven Unterbewusstsein vorliegen. Während die Anzahl der archetypischen Bilder unbegrenzt ist, bleiben die Archetypen selbst limitiert; sie sind die Katalysatoren für die Träume, die Astrologie, die Religion oder die Märchen (3), die in neueren Kommunikationsmedien weiter publiziert und ausgestaltet werden. Dazu gehört etwa im Drama, dass es den Helden und ebenso den Anti-Helden gibt. Valérie Favre nun handelt besonders mit dem Personal der Commedia dell’Arte (der Pierrot, die Sängerin), des Schauermärchens (der Tod als Skelett, die Hexen), der Fabel (Pferde, Vögel, Fische) und klinkt sich dazu in den Strom der vorzüglichen Bilderproduzenten der Kunstgeschichte, der Literatur und des Filmes ein. Und sie ergänzt dies um brisante gegenwärtige Sujets, denken wir nur an ihre ambivalenten Frauen-Figuren (die „Lapines“ und die Majoretten), die toxische Schilderung der Natur, die Kakerlake als genmanipuliertes Monster, das Auto als Todessymbolik oder an den Selbstmord.
Am Anfang der Werkgenese aber steht „La Poulinière“ (1989), eine wie vernutzt aussehende Apparatur, die aus der Frühzeit der Industrialisierung zu stammen scheint. Auf einer drehbaren Metallscheibe, die an einem Holzblock befestigt ist, sind rundum mit weißer Schrift knappe Strichkonstellationen und Zahlenfolgen notiert. In einem vorgesetzten, zum Oval gebogenen Draht ist ein blaues Dreieck als Zeiger eingehängt. Auf Grundlage der zufällig „gewürfelten“ Vorgaben erstellt Favre linear abstrakte Zeichnungen und Malereien und zwar innerhalb einer Zeitspanne von drei Minuten, die sie mit einer Sanduhr an der „Poulinière“ misst. Die Blätter selbst hat Valérie Favre als „Périmètres“ (1989-91) bezeichnet.
Aber „La Poulinière“ (die Favre als Arbeitsgerät versteht) erinnert auch an das Glücksrad auf der Kirmes, wo es als Gewinnspiel betrieben wird oder zur Prophezeiung dient: ein Aspekt, der als Volksglaube und das Einwirken übersinnlicher Kräfte das Werk von Valérie Favre bis heute begleitet. Beispiele dafür sind die „Theâtres“ „The Magician’s Congress“ (2009) und „La Voyante, die Hellseherin“ (2014-2015) oder schon davor die „Zauberin“ (2008) aus der Serie der „Lapine Univers Columbia“, die noch an die gute Fee erinnert. Sich in überwältigender Präsenz vorbeugend, nimmt sie mit ihrem Zauberstab gewissermaßen Kontakt zur außerbildlichen Welt auf. Im Übergang von einer Sphäre in die andere scheint sie die materielle Oberfläche von Innen zu berühren: Eine versiegelnde Haut liegt vibrierend über dem bildlichen Geschehen.
Vielleicht reicht dieses Moment der punktuellen Berührung ja auch, um ein bildnerisches Medium in Gang zu setzen, im Fall der „Lapine“ die Geburt der Malerei mit dem Pinsel auf der Leinwand. In „La Poulinière“ wäre dies der Zeiger, der, lapidar in einen Draht eingehängt, wie ein Initiationsritus und Impuls für die künstlerische Aktivität wirkt. Indem Valérie Favre wesentliche Entscheidungen – als Zwischenschritte – der Mechanik der „Poulinière“ überlässt, reagiert sie wie ein Schauspieler, der die Handlungsanweisungen eines Regisseurs oder Choreographen interpretatorisch umsetzt.
„La Poulinière“ – „Die Zuchtstute“ – ist eine Antwort auf Duchamps „3 Stoppages étalon“ (1913-1914) und die Aktion, die seinem Objekt vorausgeht. Duchamp definiert hier die Länge eines Standardmeters (1 m) durch das Fallenlassen von drei Seilen dieser Länge, die in Wellen auf dem Boden liegen bleiben. Dagegen setzt Favre den Perimeter als Umriss einer Fläche. Nun ist „L’Étalon“ nicht nur ein Eichenmaß, sondern auch der Begriff für den Zuchthengst. Während Duchamp sein Maß zwischen Schlaffheit und steifer Ausrichtung zeigt, beruht Favres Konstruktion auf einem Kreis: ein ebenso subtiler wie frecher feministischer Kommentar zur Kunstgeschichte. Eine solche Geste des Beginnens trägt etwas Programmatisches, zumal wenn sie von einer Künstlerin wie Valérie Favre stammt, die ihre künstlerische Haltung in Interviews als zirkulär und einzelgängerisch bezeichnet hat und auf das Malen als Form der Artikulation verweist. (4) Von hier aus darf keine Malerei lediglich als Malerei verstanden werden.
Valérie Favres Malerei im Anschluss an die „Périmètres“ ist eine sukzessive Aneignung ihres Metiers. Sie beginnt (5) mit Bildern ausschließlich in Weiß (um 1992). Valérie Favre malt alltägliche, aber auch überraschende Dinge, die in enger Beziehung zum Menschen stehen. Teils innerhalb einer Serie variiert, liefert sie Ansichten aus mitunter ungewöhnlichen Perspektiven. Mit der Position und dem Abstand vor dem Bild wechselt die Wahrnehmung zwischen der Erfahrung von Substanz und deren Verblassen. (6) Ähnlich analytisch wendet sich Valérie Favre bald darauf der (Bunt-) Farbe zu, indem sie vorrangig mit Rot malt. Als Amtstracht aus kostbarem Stoff bezeichnet es einen vorzüglichen gesellschaftlichen Status. Als Signalfarbe steht es für Gefahr, als Blut hat es den unmittelbaren Bezug zu unserer leiblichen Existenz, und es ist anrüchig und betörend. Ist nicht schon Rot ein Archetypus? Sein starker Einsatz in Filmen fällt auf: Jean-Luc Godard verwendet in „Pierrot le Fou“ (1965) eine rote Mütze zur Folter mit Wasser. In Nicolas Roegs „Don’t look now“ („Wenn die Gondeln Trauer tragen“, 1973) tritt eine mysteriöse kleinwüchsige Gestalt im roten Umhang leitmotivisch auf. Valérie Favre selbst hat berichtet, dass sie von der filmischen Adaption einer Novelle von Edgar Allen Poe durch Federico Fellini angeregt worden sei, in der ein Kind im roten Mantel einen Verkehrsunfall verursacht.(7) Auch in ihrer späteren Malerei kommt sie auf das intensive Rot zurück, etwa in „Second Life“ (2007) und bei „Ghost (nach Olympia von Manet)“ (2015-2016).
Zunächst, ab 1994 malt Valérie Favre die „Robes rouges“, neben denen sie einzelne rote Strickobjekte anfertigt. Die Roben nehmen voluminös ausgebreitet die ganze Bildfläche ein, jedoch bleibt der menschliche Körper ausgespart, so dass sie in der fein nuancierten Zeichnung des Bildgrundes (8) zu schweben scheinen. Mit ihren Aufwerfungen sind sie sinnliche Verkörperungen, wirken explizit erotisch und sind doch zugleich Ausdruck von Hierarchien. In den folgenden Jahren wird Valérie Favre ebenso weiße Gewänder mit dem Schein von Perlmutt malen, wobei sie sich auf Watteau und auf Pontormo bezieht, nun teils mit dem Menschen, der mit abgewandtem Gesicht in einen strömenden Farbgrund eingebettet ist.
Mehrere Werkgruppen, die in expressiver Malhandlung das Verhältnis von Figur und Grund, von Farbe und Raum ausloten, dabei auf die Kunstgeschichte, aber auch auf Typisierungen des (weiblichen) Menschen Bezug nehmen, folgen in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre neben- und aufeinander. So entstehen die „Interieurs“ mit kindlichen weiblichen Gestalten, die mit aufmerksamen großen Augen, wie ausgesetzt in entleerten Räumen wirken. In mehreren Schritten führt dies zu den „Lapines“: Diese brodelnden, kompakten Schilderungen hybrider Wesen zwischen Barbiepuppe und Lara Croft, die alles andere als Bunnies sind, sind im Übergang von den 1990er- zu den frühen 2000er-Jahren eine Art Markenzeichen von Valérie Favre, zumal ihre weitere Malerei in kurzen Abständen vielerlei Veränderungen durchläuft. Das Material der Kunstgeschichte fließt als solches auf unterschiedliche Weise ein, Valérie Favre betont ihre Rolle als Regisseurin, indem sie sogar die Reste des Figürlichen deformiert. All das führt mehr und mehr zur Abstraktion und aus dieser wieder heraus zum Gegenständlichen innerhalb der Werkgruppe „Squash“ (ab 1998), deren Malerei dem Titel und der virtuellen Rasanz im Medienzeitalter Rechenschaft trägt. Valérie Favre verbindet flächig liquide Schichten mit einer äußerst pastosen Materialität. Die Formate sind riesig, die Bilder entstehen in aller Intensität in einem schnellen Tempo und folglich in hoher Frequenz. Es liegt nahe, eine solche Malerei im medialen Diskurs ihrer Zeit zu verorten (9), zumal Valérie Favre schon parallel dazu und erst recht anschließend an die „Lapines“ den Modus gegenständlicher Erfassung wählt, dabei aber das Verhältnis von Konstruktion und Wirklichkeit wechselnd dosiert. In dieser Bewussthaltung ihrer Mittel und Möglichkeiten bleibt die Malerei selbstreferentiell: In „Squash“ – in der Berührung der Bildfläche als Spielfeld – ist das Moment des Beginnens fokussiert.
Damit aber liegt ein weiteres Mal (nach der „Poulinière“) der Schöpfungsgedanke als Konzept vor. Dieser ist dann mit dem Wechsel in eine narrativ konnotierte Malerei noch den Sujets und einzelnen Motiven eingeschrieben. Mit der Metapher des Waldes bei den „Forêts“ und dem „Dritten Bruder Grimm“ spricht Valérie Favre die Kreatürlichkeit pflanzlichen Wachstums an. In einzelnen der kleinformatigen, intuitive Einfälle bannenden „Short Cuts“ sind die (biblische) Verkündigung und die Zeugung mit Pfeil und Zielscheibe vorgetragen, also im punktuellen Kontakt. Zugleich ist die (unbefleckte) Empfängnis im übertragenen Sinne an die Magie delegiert: in einer Blackbox, die an den Varieté-Trick der auseinander gesägten Jungfrau erinnert. Die Aspekte der Sexualität und der künstlerischen Kreativität – mit den Rollenzuweisungen an Mann und Frau – verbinden dann die „Lapines“ und die Serie der „Balls and Tunnels“ schon im Titel. Die „Lapines“, diese zupackend dominanten und zugleich zerbrechlichen femininen Wesen, haben ihren Namen aus der Zusammenführung des französischen weiblichen Artikels mit dem Wort für den Penis. Humorvoll kritisch spielt Valérie Favre auf die Klischees von der kraftstrotzenden Potenz des Mannes und des Genies mit dem Malerpinsel an.
Ähnlich beinhaltet der Titel „Balls and Tunnels“ (seit 1995) den Verweis auf die männlichen und weiblichen Fortpflanzungsorgane. Konsequent einmal im Jahr – und quasi als Ritual – realisiert Valérie Favre ein solches gegenstandsfreies lichtdurchflutetes Bild mit den stets gleichen, von ihrer sonstigen Malerei abweichenden Verfahren. Im allmählichen Absinken in einem Wasserbecken setzen sich buntfarbige Tinten in der Leinwand fest; diese Spuren bilden den Ausgangspunkt für den weiteren Auftrag der Farbe. Die „Balls and Tunnels“ sind eine Demonstration dessen, was, nach den Worten von Valérie Favre, Malerei ihrem Wesen nach ist: Farbe auf einer Fläche (also zweidimensional), hier noch im Zusammenwirken mit dem Zufall. Das ist das eine. Das andere bei „Balls and Tunnels“ ist das weitere kontrollierte Vorgehen in der zentrierenden Komposition, die wie eine Explosion von Innen nach Außen strömt. Im Transparenten bleibt die Vorstellung von Wasser gegenwärtig, zumal aus der Tiefe lichte Helligkeit – wie oberhalb eines Wasserspiegels – durchscheint. (10) Ebenso wie das Schweben oder Fliegen bezeichnet der Aufenthalt im Wasser einen Übergang. Valérie Favre hat sich damit in jüngster Zeit weiter beschäftigt: in der Darstellung Ertrinkender in ihren Malereien zu „Thomas Obscur M.B.“ nach Maurice Blanchot (2014-2015).
Ohnehin widmet sich Valérie Favre den Handlungen und Zuständen existenzieller Grenzüberschreitungen. Bei ihren „Henkerinnen“ sind die Schneidefläche des Beils und der Schoss identisch, in dem sich die Zeugung und die Geburt ereignen. Ohne Gesicht, im Frontalen inmitten der Bühnensituation heraldisch, ist ihnen alles Lebenspendende fern (11). Weiterhin thematisiert sie den – frei gewählten, irreversiblen – Selbstmord. Die Serie mit 129 Tafeln (2003-2013) besitzt schon im einheitlich kleinen Format von 24 x 18 cm und durch die verhaltene Farbigkeit, die lediglich Gelb, Blau, Schwarz und Weiß zulässt, etwas Intimes. Diese Bilder, die verschiedene Todesarten und Persönlichkeiten, welche diesen Tod vollzogen haben, in wesentlich abstrahierter, ja, verhuschter Malerei zeigen, wirken wie Erinnerungen, die gerade noch dem Vergessen entrissen sind. Die Gefährdung des physischen, aber auch mentalen Lebens – die Sterblichkeit – zeigt sich noch im Transit vom Leben zum Tod. Im Grunde sind die „Autos in der Nacht“ (2002-2006), die durch die Nacht gleiten oder am Straßenrand abgestellt sind – zumal wenn wir ihr Vorkommen im Film „Mullholland Drive“ (2001) von David Lynch beobachten, auf den sich Valérie Favre bezieht – eine Art Ouvertüre für die drei Hexen, die den Leichnam ins Jenseits verbringen. Sie gibt mit ihnen der Zuständlichkeit der „Ghosts“ eine Form und dehnt die Zeit der Schwelle. (12) – Friedrich Dürrenmatt gibt in der „Richter und sein Henker“ (1950) einem Auto den Namen „Blauer Charon“, nach dem Fährmann der griechischen Mythologie, der die Toten über den Acheron in die Unterwelt führt. (13)
Viele der Figuren von Valérie Favre tragen das Scheitern als größtmögliche Tragödie in sich. Sie sind Anti-Helden und oft ihrer Mobilität verlustig. Ferdinand Wilhelm Grimm bleibt im Schatten seiner Brüder, für die er zeitweilig als Sagensammler arbeitete. Die Boxer in den „Short Cuts“ können sich kaum noch auf den Beinen halten; der Knock-out ist unweigerlich mit dem Berufsbild verbunden, wobei Valérie Favre im Titel noch auf Shakespeares „Hamlet“ verweist. Selbst die „Lapine“ ist in Stiefel gezwängt und bewegt sich steif. Immer wieder befinden sich Tiere – in der zeitgenössischen Kunst meist mit Ignoranz gestraft und hier nun an die Fabeln eines Jean de la Fontaine und die Märchen der Brüder Grimm anschließend – in würdelosen, lebensbedrohlichen Situationen. Das Pferd in der „Dritte Bruder Grimm“ hat nicht nur eine Rüstung umgebunden, sondern trägt auch Stöckelschuhe. Der Fisch wird von den Hexen durch die Lüfte getragen. Ausgerechnet dem Adler ist ein Handschuh über den Flügel gestülpt.
Solche Situationen wirken wie Filmstills auf dem Höhepunkt der Eskalation. Sie verkörpern eine generierte Surrealität auf Augenhöhe. Dazu trägt noch die Darstellung des Außenraumes als mystisch aufgeladenes, dunkles, ort- und zeitloses Terrain bei, wenn wir an die Umgebung der Autos, die Hexen im lichtlosen Universum oder die distanzierte Landschaft beim „Dritten Bruder Grimm“ und noch bei den „Volières“ denken. Wie Valérie Favre im Interview berichtet hat, liegt ihren „Forêts“ (ab 2002) die Landschaftsdarstellung eines Computerspiels zugrunde, deren generierte Komprimierungen den Effekt grenzenloser, dabei dreidimensionaler Weite erzeugen. (14) Ein anderes, einzelnes Bild ist nach „Second Life“ (2007) benannt, einer interaktiven Parallelwelt im Internet. Wir schauen aus leicht erhöhter Position auf eine Ansammlung von Fragmenten und Attrappen: Nichts scheint vollständig, selbst die Buchstaben bleiben Versatzstücke. Es geht um das Aufeinandertreffen verschiedener Rollen, die doch nicht aus ihrer Rolle schlüpfen: Sie bleiben Geburten aus dem Stand. Vielleicht befindet sich deshalb das purpurne Röckchen mitten im Zentrum? Vielleicht erinnert es ja an die Wirklichkeit und an die (gelebte) Historie.
Der aktuelle Stand in der Entwicklung der Computerspiele – der dann eine Ganzheitlichkeit vorgaukelt – ist übrigens die „Virtual Reality“, die den Avatar durch die neuronale Verarbeitung des Sehens ersetzt und partizipatorische Identität verheißt. Der Zuschauer befindet sich damit gewissermaßen inmitten der Szenerie. – Valérie Favre hat dies in der Weite ihrer „Forêts“ simuliert. Dem „Wald“, der 2004 im Kunstverein Münster ausgestellt war, ist in der völligen Entleerung und im Zurückgesetzten seines Saumes, auch im Licht und der Beleuchtung der Baumblätter etwas Artifizielles eigen. (15) Dieses wird durch den Sog der Schneisen in die Bildtiefe gesteigert, und zumal in der Präsentation als Rundum-Panorama entsteht ein beunruhigendes Gefühl zwischen Teilhabe und Abstoßung. Wir drehen uns im Kreis. Ein wichtiges Moment dabei ist die Monotonie als Kontinuum. (16)
Ähnlich distanziert-rätselhaft und doch anders verhält es sich mit dem landschaftlichen Raum in der Werkgruppe des „Dritten Bruder Grimm“ (2004-2006). Die Handlung ereignet sich in der Lichtung. Die Bäume wachsen als einzelne in die Höhe; im Mittel- oder Hintergrund hingegen verschmelzen sie. Der meist grünblaue Boden wirkt nachgiebig und erinnert mitunter an eine Eisfläche: Auch er ist reine Malerei. Die Szenerie ist atmosphärisch dicht. Die Protagonisten – im besonderen ein Pferd, bei dem man an Don Quijotes Rosinante denken könnte (17) – bleiben häufig für sich, unklar, welche Rolle die Gebäude an ihrer Flanke oder weiter hinten spielen. Die unausgesprochene Erzählung in ihrer collagenhaften Verfasstheit und abrupten Zerstückelung von Symbolik aber lässt an Erfahrungen des Films denken, dessen Vermögen der Sequenzierung und Temperierung. Sind die unverbundenen, aber in ihrer Bildsprache doch zusammengehörenden Gemälde zu „Der Dritte Bruder Grimm“ überhaupt noch Narration oder nicht vielmehr schiere Konstruktion? Ist das nicht ohnehin Prinzip der Märchen und Sagen, dass sie – hinter der (unterhaltenden, pädagogischen) Fassade – aus Archetypen zusammengesetzt sind? Auf die Strukturiertheit des Märchens lässt übrigens schon – neben dem stereotypen Handlungsverlauf – der immer gleiche Beginn schließen: „Es war einmal“ …
Wie von dieser Ehrfurcht gebietenden Formel aus wieder in die Gegenwart zurückfinden und die Distanz der Erzählung zum Publikum überwinden? Orson Welles‘ „Citizen Kane“ (1941) vollzieht den Übergang vom Erzählkino zum Film als Kunstform, indem das Kinopublikum der fiktiven Dokumentation vom Aufstieg des Charles Foster Kane zum Zeitungsmogul mit den Augen des auktorialen Erzählers folgt und dadurch atemberaubende und überraschende Perspektiven einnimmt.
Ein weiterer epochemachender Schritt im Film war die Einführung des Cinemascope Formates, über das Godard keinen geringeren als Fritz Lang spöttisch urteilen lässt: „Ideales Format für Schlangen oder für Begräbnisse“ („Verachtung“, 1963). Es ermöglicht als anamorphotisches Verfahren das plastische Sehen und macht es dem Vorstellungsvermögen leicht. Und es ist das Format von Valérie Favres „Short Cuts“ und – neben weiteren Bildgruppen – „Theâtres“, bei denen es, folgend der menschlichen hochformatigen Konstitution und zudem aus pragmatischen Gründen, auf drei Leinwände verteilt ist. Also die nahezu gleiche Proportion und Ausdehnung, aber unter anderen Bedingungen der Rezeption. Valérie Favre hängt ihre Bilder in Ausstellungen niedrig; die Handlung setzt wie zum Eintreten und Teilnehmen ein. Beispielsweise liegen die Hände beider Radschlägerinnen am unteren Bildrand auf. Zum Sog in das Bild und der Verschränkung von Bildgeschehen und Betrachterstandpunkt tragen noch die Lichtschneisen und die geöffneten Vorhänge bei, die zudem mehrlagig sind und einen Innenraum umschreiben, sowie die Podeste und die Stühle. Die Akteure nehmen, zentralperspektivisch in der Horizontalen aufgereiht wie die Reiter in Uccellos „Jagd“ (um 1470), die Tradition des holländischen Gruppenbildnisses mit ihrem Habitus auf, der nur den Eingeweihten verständlich ist. Mehrere Handlungen laufen simultan ab, wechselnd zwischen Shakespeareschem Drama, Totentanz, Komödie und Vaudeville, Opernhaus und Jahrmarkt, unterstützt durch die Kostümierungen, Uniformen und Requisiten. Dazu tragen die Überbleibsel des Figürlichen bei, das Skelett und das einzelne Köpfchen, das an Bronzeporträts, Puppenköpfe, Karnevals- oder Totenmasken erinnert, und der prekäre Stand im unverbundenen Bein. (18) Eine körperliche Plastizität zieht sich ohnehin durch Valérie Favres Werk. Als Form kehrt sie wieder in den Kacheln und kippenden architektonischen Konstruktionen. Die Abfolge homogener oder verschobener Rhomben ist wohl das auffälligste Leitmotiv in ihrer Malerei der jüngeren Zeit, schon indem es so viele Wandlungen durchläuft. Es findet sich noch in den Kostümen und Vorhängen der „Theâtres“. Diese säumen oder verdecken den Durchgang dort, wo die Regie zu vermuten wäre, wenn sie sich nicht oberhalb des Zuschauerraumes befindet. Und vielleicht – darauf weist bei genauem Sehen einiges – befinden wir uns ja selbst auf der anderen Seite des Theaters, also auf der Bühne oder in deren Tiefe. Aus dieser Perspektive seien weitere wiederkehrende Motive der „Theâtres“ nur aufgelistet: die Szenen aus dem Varieté, die Zielscheiben, Musikinstrumente, Handschuhe und Stiefel, die Globen – Valérie Favre spricht von Planeten (19) – die Majoretten und die Vogelbeine, die Tiere und Tierwesen, auch das emblematische Seepferdchen und das Pferd, das an ein Einhorn erinnert. Und dann ist sensationell, wie Valérie Favre ihre Geschöpfe in ihren Kleidungen aufeinander bezieht und sitzend, stehend, tanzend und liegend darstellt; wie sich die Häupter heben und senken und zur Seite neigen. Sprechend, singend oder rein gestikulierend, bringt der Reigen der Charaktere verschiedene Affekte zum Ausdruck. Einzelne dieser Akteure schauen direkt ins Publikum, teils noch aus der Verschattung heraus, wie wir es von Rembrandt und Gerrit Dou kennen. – Vielleicht ist dies das Eindrucksvollste in dieser so vom Leben durchdrungenen, konzeptuellen Malerei der „Theâtres“: die enorme Präsenz der Figuren, die ihre Schöpfungsgeschichte in sich tragen, mit einem Bein im Diesseits des Publikums stehen und es noch in ihre Mono- und Dialoge und ihre Vorführungen einbeziehen: „Tell me the truth: Are we still in a game?“ (20)
Thomas Hirsch
in: Valérie Favre, Ausstellungskatalog Von der Heydt-Kunsthalle Wuppertal-Barmen 2016
1 Valérie Favre verweist auf das Absurde Theater mit Samuel Beckett und erwähnt demgegenüber die Aktualität und Konkretheit von Sarah Kane. 2002 hat sie zu Kane und deren Texten eine Schrank-ähnliche skulpturale Arbeit erstellt.
2 Siehe dazu Beatrice von Bismarck, Ausst.-Katalog Nîmes, Luzern; Ostfildern 2009, S. 89ff.
3 C.G. Jung, Die Archetypen und das kollektive Unterbewusstsein, Gesammelte Werke, Neunter Band, Erster Halbband, Olten 1976. – Valérie Favre hat sich bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mit Psychoanalyse befasst.
4 Im Interview mit Sylvie Coudrac, Ausst.-Kat. Amiens 2003, und in mehreren Pressegesprächen.
5 Nach ersten Malereien u.a. von „Roten Roben“ 1989.
6 Das Interesse, das Valerie Favre bei ihrer Werkgruppe der „Balls and Tunnels“ (ab 1994/95) an der Malerei von Roman Opalka bekundet, ist hier und im Seriellen der „Périmètres“ angelegt.
7 Im Interview mit Claire Brunet, Ausst.-Katalog Range ta Chambre, Hérouville Saint-Clair 1994, S. 18. „Toby Damnit“ (1968): dem ehemaligen Shakespeare-Schauspieler wird beim Überfahren einer Schlucht der Kopf durch ein gespanntes Seil abgetrennt.
8 Peter Lang beschreibt die hohe Differenziertheit als „Batikästhetik“, Ausst.-Kat. Centre Culturel Suisse, Paris 1997, S. 13.
9 So ist Valérie Favre verstärkt in den Jahren vor und nach 2000 zu Ausstellungen zum zeitgenössischen Zustand der Malerei eingeladen.
10 In dem Zusammenhang wäre unbedingt die Werkgruppe der „Fragments“ (2010-2012) zu erwähnen, die Ausschnitte des dunklen, von Sternen übersäten Universums zeigt.
11 Im Gegensatz zu ihrem sonstigen Vorgehen verzichtet Valérie Favre bei den „Henkerinnen“ auf das Gesicht, indem sie es geradezu „auslöscht“ und vermalt. Gewiss spielt sie damit auf das Verbergen hinter einer Rolle an, hinter der ein ganz normaler Mensch stecken könnte. Sie könnte aber auch an das „Cyberface“ als „Maske ohne Gesicht“ gedacht haben. „In der digitalen Welt kehren alte Archetypen in Artefakten zurück, die im gleichen Intervall zwischen Traum und Beweis stehen“ (Hans Belting, Faces. Die Geschichte eines Gesichts, München: C.H. Beck, 2013, S. 303).
12 Eine wichtige Quelle in Bezug auf das Überschreiten der Schwelle vom Leben zum Tod ist für Valérie Favre Dantes „Göttliche Komödie“. Dort ist den Selbstmördern ein eigener Ort in der Inneren Hölle zugewiesen, wo sie zerzauste Sträucher und Büsche sind. – Der Serie der „Ghost (nach Goyas Hexenflug)“ geht ein einzelnes solches Bild lange voraus, entstanden 2001-2002 aus Betroffenheit zu 9/11.
13 Die Autos führt Dürrenmatt in seinem Kriminalroman wie folgt ein: „Sie schwiegen wieder und warteten; da leuchtete der Wald von Twann her auf. Ein Scheinwerfer tauchte sie in grelles Licht. Eine Limousine fuhr an ihnen Richtung Lamboing vorbei und verschwand in der Nacht“ (Der Richter und sein Henker, Fünftes Kapitel, detebe 250/19, Zürich 1980, S. 34).
14 Im Gespräch mit Sylvie Coudrac, Ausst.-Kat. Amiens 2003, S. 10.
15 Zu verstehen auch als Kommentar zu diesem Topos der Deutschen Romantik, mit dem sich Valérie Favre aus der biographischen Distanz nach ihrem Umzug von Paris nach Berlin beschäftigt.
16 So hat sich Valérie Favre etwa mit dem „Bewusstseinsstrom“ von James Joyce und Thomas Bernhard beschäftigt. Selbst hat sie eine zweistündige Fassung von Molly Blooms Schlussmonolog aus „Ulysses“ 1982 in Paris und Genf aufgeführt. In diesem Kontext wäre an ihren acht Stunden langen Monolog für „Les restes de la Méduse“, Amiens 1997, zu erinnern.
17 Vgl. dazu insbesondere Alfred Kubin.
18 Damit steht Valérie Favre durchaus in der Tradition von Luis Buñuel und Hans Bellmer. Herbert Bayer hat den Schnitt durch den eigenen Körper mit den Mitteln der Fotomontage vollzogen.
19 Danke, Valérie, für die Gespräche im Atelier und das Vertrauen.
20 David Cronenberg, Schlußsequenz „eXistenZ“, 1999.