»WAS GEBEN SIE?«
BEWUSSTSEINSRÄUME UND DOPPELTER BODEN IN DER MALEREI VALÉRIE FAVRES
von Antje Dietze
ein stabilisiertes Bewusstsein thront in einem abgedunkelten Festsaal nahe der Deckenwand eines Geistes dessen Boden schwankt wie zehntausend Kakerlaken wenn ein Lichtstrahl eindringt während alle Gedanken zusammenschießen für einen Moment im Einklang Körper nicht länger mehr ausgegrenzt während die Kakerlaken eine Wahrheit umschließen die keiner je ausspricht
Viele der Arbeiten Valérie Favres aus den letzten Jahren verbreiten die Atmosphäre von Ausweglosigkeit und Depression. Ihr Portrait einer Kakerlake (Kakerlake II) erscheint in diesem Zusammenhang geradezu als Sinnbild der unheimlichen Präsenz der Vergänglichkeit. Es könnte sich dabei um eine Variation des Genres des Beuteportraits oder Jagdstücks handeln. Jagdstücke dienten der Repräsentation adeliger Privilegien. Kakerlaken, die mit Schmutz und Krankheitserregern assoziiert werden, oft Ekel und Vernichtungsimpulse auslösen, eignen sich demgegenüber wenig als dekoratives Sammlerstück.
Der Blick des Betrachters trifft das ungefähr menschengroß dargestellte Insekt (2,50 m x 1,95 m) von der verletzlichen Unterseite her. Es ist in unreinen Farben gemalt, mehrere Beinpaare ragen aus dem kaum auszumachenden Körper hervor, der Kopf bleibt unsichtbar. Allerdings ergibt sich der Kadaver (falls das Tier überhaupt tot ist) nicht einfach dem Blick und wird dadurch zur Trophäe. Er erzeugt beim Betrachter vielmehr den Eindruck des Verschlungenwerdens, das unangenehme Gefühl, in einen monströsen Intimbereich eingedrungen zu sein. Das Bild schaut bedrohlich zurück. Die Kakerlake I, ein weiteres Bild dieser Serie, verstärkt diesen Eindruck – dort rufen die gespreizten Beine der Kakerlake die Assoziation hervor, in das Geschlecht einer Frau zu blicken, das sich allerdings in Farbschlieren verliert.
Es entsteht die Anmutung, man könne es auch mit einem Stimmungsportrait der Künstlerin zu tun haben. ›Avoir le cafard‹ – ›die Kakerlake haben‹ – heißt es in der französischen Umgangssprache, womit ein übellaunig-depressiver, antriebsloser Stimmungszustand gemeint ist. Die Kakerlake wäre dann die verstörende Verkörperung eines emotionalen Innenraums. Doch was gibt es dort zu sehen? Das morbide Innere der Künstlerin, das sie im Bild ›eingefangen‹ und entblößt hat (was heißen kann: abgebildet oder über- und bewältigt) und nun zur Schau stellt? Das Sinnbild kollektiver und zumeist irrationaler Ängste als Metapher einer Gesellschaft? Das Opfer eines Gewaltaktes, das in seiner Verletzlichkeit den Blicken der Betrachter dargeboten wird?
Valérie Favre kombiniert in ihren Ausstellungen Bilder aus verschiedenen, zeitgleich entstehenden Serien. In der Ausstellung Honig in der Sackgasse , deren Hängung hier als Beispiel dienen soll, werden zusammen mit der Kakerlake II Variationen der Autoscooter Garage (I und II, je 2,50 m x 3,10 m) gezeigt. In einer großen Halle, Scheune oder Kirche, die voller Fahnen hängt, stehen unzählige Autoscooter. Sie bedecken den Boden, ihre Stromabnehmer ragen wie Antennen auf, den Fahnen entgegen – doch es gibt kein Leitungsnetz, sie sind offenbar fahruntüchtig. Durch Highlights in Primärfarben scheinen sie zu wimmeln; eine insektenähnliche Masse, ein dunkles Heer unter Fahnen, über dem leuchtend das weiße Dreieck des Giebelfensters thront: Sei es Big Brother, sei es das von verschwörungstheoretischen Geheimnissen umgebene allsehende Auge in der Spitze der Pyramide auf der Eindollarnote der USA, das Auge Gottes oder der Vernunft – oder der Einbruch malerischer Abstraktion, deren Reinheitsphantasma hier jedoch stark angegriffen ist.
Auf den ersten Blick könnte man das Bild für einen hinterlistigen Kommentar zu Guy Debords Gesellschaft des Spektakels halten: »Das Spektakel ist der Moment, in welchem die Ware zur völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar; sondern man sieht nichts anderes mehr: die Welt, die man sieht, ist seine Welt.« Es scheint, als wäre hier die Gesellschaft vollständig in eine Masse ausrangierter Waren einer dysfunktionalen Spaßgesellschaft transformiert, aufgereiht wie zu einer totalitären Massenversammlung unter der Diktatur der Abstraktion.
Zugleich scheinen die Autoscooter Garagen einen Bewusstseinsraum darzustellen, wie er ähnlich auch in Sarah Kanes Theatertext 4.48 Psychose (1999), aus dem das Eingangszitat stammt, entworfen wird: Ein abgedunkelter Festsaal als Innenraum eines krisenhaften menschlichen Geistes, über allem leuchtend das weiße Dreieck des stabilisierten Bewusstseins, am Boden ein insektenähnliches Heer, dessen Aktivität oder Passivität unergründlich bleibt wie alles, was sich jenseits des Bewusstseins abspielt – eine Wahrheit, »die keiner je ausspricht«. Auf das Verhältnis von Valérie Favres malerischer Praxis zu den Texten Sarah Kanes wird gleich zurückzukommen sein.
Weitere Elemente der Ausstellung sind u.a. Miniaturen aus der Short Cuts-Serie – rätselhafte Traumszenen und zugleich kunsthistorische Anleihen im Cinemascope-Format – sowie die Redescription#3 von Rembrandts Petersburger Kreuzabnahme (1634), wobei der schlaffe, formlose, fahlweiße Leichnam Christi von Majoretten und Faunen gestützt wird. Favres Bilder umfangen die Betrachter mit einer düsteren Emotionalität und setzen sie einer depressiven Seelenlandschaft aus. Jedes der Bilder eröffnet damit Einblicke in ein katastrophisches Innenleben, das möglicherweise Überschneidungen zu dem der Malerin selbst aufweist. Zugleich ist jeder dieser Bewusstseinsräume Sinnbild und Schauplatz kollektiven Befindens, verweist auf einen apokalyptischen Zustand der Gesellschaft insgesamt. Jedoch ist die Frage nach dem Ausdruckssubjekt – und damit auch nach den Beziehungen der Betrachter zu ihm – komplizierter. Vorsicht ist geboten, nicht nur weil Titel wie Honig in der Sackgasse zu versprechen scheinen, dass hier Fallen aufgestellt wurden, in denen ein süßer Köder – oder ein süßer Trost – zu erwarten ist.
Eines der klassischen Modelle von Expressivität im Sinne eines ›authentischen‹ Gefühlsausdrucks, dessen malerische Variante die Bilder der ehemaligen Schauspielerin Valérie Favre zu sein scheinen, ist das Method Acting – die vor allem von Lee Strasberg propagierte und von Hollywoodikonen wie Marlon Brando umgesetzte US-amerikanische Weiterführung der Theatermethode Konstantin Sergejewitsch Stanislawskis (1863-1938). Stanislawski entwickelte ein komplexes System von Psychotechniken, die es dem Schauspieler durch geistige und körperliche Selbstaufreizung ermöglichen, sein eigenes emotionales Gedächtnis einzusetzen, um bei sich selbst einen emotionalen Zustand zu erzeugen, der dem des darzustellenden Charakters entspricht. Indem der Schauspieler tatsächlich erlebt, statt nachzuahmen, erreicht er ein Höchstmaß an authentischem Ausdruck durch ›echtes‹ Gefühl. Schauspieler und Rolle verschmelzen nicht, doch das dargestellte Selbst oszilliert zwischen beidem. So ist nicht mehr unterscheidbar, ob man es mit der unmittelbaren Wiedergewinnung echten Erlebens aus dem emotionalen Repertoire des Schauspielers zu tun hat oder mit dessen Simulation. Möglicherweise projiziert der Schauspieler die Emotionen seiner Rolle nur auf die eigene Vergangenheit – und erfindet dabei ein Erleben, statt es wiederzuholen. Philip Auslander hat darauf hingewiesen, dass das so entstehende Ausdruckssubjekt nicht unabhängig vom Vermittlungsprozess existiert: »Despite his commitment to the ideal of self-presence, Stanislavsky seems to realize that the self does not exist independently of the processes by which it is revealed to itself and others, that the self which is supposedly exposed through the medium of acting is in fact produced by the mediation of psychotechnique between the conscious and the unconscious levels of the actor’s psyche.« Authentizität und Künstlichkeit sind dann keine klaren Gegensätze mehr. Die gelungene Darbietung eines inneren Erlebens setzt die meisterhafte Beherrschung der Techniken voraus; nach dem hierfür nötigen jahrelangen Training ist der Ursprung dieses Ausdrucks jedoch nicht mehr klar nachvollziehbar.
Ähnliches gilt für die Ausdruckswerte in der Malerei. Die Bewusstseinsräume und emotionalen Befindlichkeiten in Favres Bildern sind zum einen komplexe Anleihen an kunsthistorische bzw. literarische Modelle und Techniken, zum anderen ist nicht bestimmbar, wessen Geistes- bzw. Gemütszustand reflektiert wird. Es ist nicht ausgemacht, ob die Bilder überhaupt vom Innenleben der Malerin zeugen und wie viel von der Düsternis, aber auch der Komik und dem Zynismus die Betrachter hineinprojizieren. Gehen wir der Frage danach, wer spricht, noch anhand eines anderen Modells nach, das den Fokus der Frage weiter verschiebt – vom Ausdruckssubjekt zur Form, und vom Einzelbild zur Gesamtinszenierung der Ausstellungen.
Valérie Favre interessiert sich für Erzählformen und deren Übersetzbarkeit z. B. zwischen Film, Literatur und Bild sowie für eigene Einschreibungen in existierende Darstellungsmodelle. Man gewinnt den Eindruck, dass sie in einigen ihrer Ausstellungen malerisch an einem Erzähl- und Ausdrucksmodell arbeitet, wie es paradigmatisch in Form des Bewusstseinsstroms in die Literatur eingeführt wurde. Favre hat selbst einen der bekanntesten Bewusstseinsströme in ihrer Zeit am Theater gespielt – den der Molly Bloom aus James Joyces Ulysses (Molody Bloom, 1982). Eine weitere Auseinandersetzung mit dieser Tradition stellt ihr Experiment dar, im Dialog mit Théodore Géricaults Gemälde Das Floß der Medusa (1819) einen eigenen achtstündigen Bewusstseinsstrom zu erzeugen (Les Restes de la Méduse, 1997). Bewusstseinsströme sind der Versuch, das Innere einer Figur vermeintlich direkt und unvermittelt darzustellen und dabei paradoxerweise auch für die Inkonsistenz und Formlosigkeit von Bewusstseinsprozessen eine formale Analogie zu finden. Die oft sprunghafte und diskontinuierliche Form des Textes soll der fragmentierten, repetitiven Struktur des dargestellten Bewusstseins entsprechen. Was bleibt, sind Reste eines Subjekts, die der Leser zusammenfügen kann – oder auch nicht. Verdeckt bleibt dabei zumeist die große Künstlichkeit dieser Konstruktion, die auf einem unmöglichen Erzähler- bzw. Beobachterstandpunkt beruht, denn zumeist sind Vorgänge im Innern eines fremden Bewusstseins dargestellt. Wer könnte davon sprechen?
Valérie Favre scheint dieses Modell und diese Fragen vom literarischen Bewusstseinsstrom in den malerischen Bewusstseinsraum zu übertragen. Dieser Spur möchte ich anhand von Sarah Kanes Theaterstück 4.48 Psychose als einem möglichen Strukturmodell ihrer Ausstellungen insgesamt nachgehen. Favres Interesse an Kanes Texten ist vielfach erwähnt worden, von ihr selbst betont durch ihr ›Denkmal‹ Sarah Kane aus dem Jahr 2002. Kanes Text ist eine von vielen theatralen Weiterführungen der Erforschung des Inneren und der Techniken seiner Inszenierung. Der Bewusstseinsstrom ist eine der zahlreichen künstlerischen Traditionen, von denen der Text – ebenso wie Favres Bilder – erklärtermaßen ›stiehlt‹: »Schlusslicht einer langen Reihe literarischer Kleptomanen / (ein bewährter altehrwürdiger Brauch) // Diebstahl ist der heilige Akt / Am Kreuzweg zum Ausdruck«.
Kanes Stück ist eine polyphone Komposition unverorteter und namenloser Stimmen und Textfragmente, die eine Abwärtsspirale von depressiven Zuständen, unüberwindlicher Einsamkeit, psychiatrischer Betreuung und Selbstmordphantasien erzeugen. David Greig nennt es die »innere Landschaft einer suizidären Psychose« , ein Theater des Bewusstseins eines entgrenzten Ichs. Im Stück heißt es: »die Zerreißung / einer Seele // eine Solosymphonie«. Der Text reißt gegen Ende in immer größere Leerstellen auf, blendet aus ins Nichts – ins Verstummen, vielleicht in den angekündigten Tod. Grundlegend ist auch hier die Entsprechung von Struktur des Bewusstseinsraums und Form des Textes – allerdings ist dieser Zusammenhang bis zu einem Extrem weitergeführt, in dem die Frage ›Wer spricht?‹ in noch radikalerer Weise unbeantwortbar ist als im Falle der Stanislawski-Schauspieler. Bereits nicht mehr zu unterscheiden ist, ob das Textsubjekt Eines ist (die Zuschauer Zeugen der Erinnerungsfetzen und Gedanken seines Bewusstseins werden), ob es in der Krise seinen Zusammenhalt verliert und vor den Augen der Betrachter in verschiedene Stimmen zerfällt oder ob eine Collage verschiedener Subjektstimmen als Variationen über ein Thema vorliegt. Letztlich sind diese Unterscheidungen müßig – sie schließen sich einerseits nicht gegenseitig aus und führen andererseits zu der grundsätzlichen Frage, ob ein Textsubjekt jemals mehr ist als der Marktplatz verschiedener ›Stimmen‹, eine Ansammlung von Worten. Was Kane vorführt, ist die Tatsache, dass das Textsubjekt letztlich eine Projektion des Autors, des Schauspielers bzw. Zuschauers/Lesers ist und seinen Fluchtpunkt, seine Einheit und Beglaubigung daher nur außerhalb des Textes finden kann.
Auch Valérie Favres Ausstellungen könnten jeweils als ein verräumlichtes Bewusstsein mit einem auf verschiedene ›Stimmen‹, Bilder und Figuren verteilten Ausdruckssubjekt verstanden werden. Wie Kane arbeitet Favre jedoch mit einer gezielten Unschärfe und Ambivalenz der Rollen und Figuren, die so weit getrieben wurden, dass diesem krisenhaften ›Bewusstsein‹ kaum mehr ein einheitliches Subjekt zugeordnet werden kann – zu groß die Vielzahl der ›Stimmen‹ allein in einem Bild, zu verwischt die Konturen der Figuren, die bis in die Abstraktion hinein, bis ins Amorphe gearbeitet sind und sich nie weit genug aus den Farbverläufen, -schichtungen und -verdickungen lösen. Es ›spricht‹ hier eine über die Einzelfigur, die Einzelbilder und die Einzelperson der Malerin hinausgehende Konstellation, ein verräumlichtes, jedoch nicht vereinheitlichtes malerisches Denken. Dieses ist keinesfalls chaotisch, sondern nach klaren Regeln, in Form von Serien und Korrespondenzen der Bilder untereinander aufgebaut. So entsteht ein Argumentationsraum, der sich dem Risiko aussetzt, von Abgründigem zu erzählen, ohne es völlig aufklären zu wollen, und dessen möglicher Fluchtpunkt nicht zuletzt aufgrund dieser Offenheit – wiederum – die Betrachter sind. Bildserien wie die Kakerlakenportraits ziehen die Betrachter zunächst in einen nichtlinearen, expressiven und mit Darstellungsmitteln der emotionalen Überwältigung spielenden Erzählraum, der sich auf den zweiten Blick als ein doppelbödiges Spiel mit komplexen Konstruktionsprinzipien emotionaler Innerlichkeit entpuppt.
Auch dafür kann Kanes Text als Modell angesehen werden. Skandal machte 4.48 Psychose zunächst vor allem wegen seiner ›Authentizität‹ – Sarah Kane war selbst schwer depressiv und beging kurz nach Beendigung des Textes Selbstmord. Damit erschien ihr Stück vielen als autobiographisches Résumée, als poetischer Abschiedsbrief, oder ganz und gar nicht als künstlerischer Text, sondern als psychopathologisches Dokument. Verwechselt wurden hier Autor- und Textsubjekt , die sich jedoch auch dann noch unterscheiden lassen, wenn eine Autorin offensiv Autofiktion schreibt. Übersehen wurde vielfach, wie stringent und komplex das Desaster des Subjekts komponiert und in eine formale Struktur übersetzt wurde, welch radikalen Feldzug die Autorin in all ihren Stücken gegen den Naturalismus auf der Bühne führte. Hinzu kommt die hohe Selbstreflexivität von Kanes Text, die jeder Unmittelbarkeit des emotionalen Ausdrucks den Boden entzieht. Noch im Moment ihres Verschwindens sagt die Stimme: »sieh mich verschwinden«. Das lässt sich psychologisch deuten, ist doch der Text durchzogen von Hilferufen nach menschlichem Kontakt, nach echter Aufmerksamkeit, nach einer Liebe, die möglicherweise heilsam sein könnte. Doch zugleich beschreibt dieser Satz präzise die theatrale Situation, auf die hin der Bühnentext geschrieben ist, adressiert den Zuschauer, die ambivalente Position derer, die dafür bezahlen, einen Abend lang eine Psychose zu betrachten.
Auch Valérie Favres Skulptur Sarah Kane thematisiert diesen Prozess der Übersetzung, der mit jeder Darstellung von Bewusstseinszuständen, mit ihrer Inszenierung für andere einhergeht. Es handelt sich laut Favre um ein »Möbelstück mit Kühlschrank und einem integrierten Thermostat, das die Innentemperatur anzeigt. […] Ich könnte eine Parallele ziehen zwischen meiner Skulptur und den Stücken von Sarah Kane, die den Regisseuren viele Schwierigkeiten bereitet haben. Es ist ihr gelungen, die Problematik von Sagen und Sehen zu formulieren.« Kanes Texte fordern die naturalistische Bühne heraus: Wie verkörpert man entgrenzte Stimmen? Wie kann man den Innenraum einer Psychose inszenieren, wie das allmähliche Verschwinden eines Subjekts? Der Temperaturfühler in Favres Skulptur verweist auf die Darstellungsprobleme solcher ›Tiefenbohrungen‹. Damit ist die grundsätzliche Frage gestellt, inwieweit innere Zustände überhaupt abbildbar sind und anderen vermittelt werden können – und wie stark sie durch soziale Rückbindungen beeinflusst werden.
Marie-Christine Lesage betont gerade diesen gesellschaftlichen Aspekt, der durch die Konzentration auf den »Mythos der Autorin« übersehen wird – die Frage danach, was Kanes Text über die Darstellung der persönlichen Krise der Autorin hinaus zu sagen hat: »La psychose de 4.48… est avant tout psychose sociale, insanité collective. Ainsi, au détour de l’intime on retrouve l’inscription du social. Car il serait trop facile et commode de lire cette pièce comme une sorte de document autobiographique, comme le témoignage de la maladie dans laquelle sombrait l’auteur. Ce serait lui enlever toute sa force détournée, subversive. Car cette pièce est la représentation d’une tension, la nôtre, celle de la déchirure de la relation de soi à soi, déchirure qui est l’aboutissement de la perte vitale du lien sensible à l’autre et à une collectivité.«
Die Stimmen in 4.48 Psychose begehren auf gegen ständig fehlschlagende medikamentöse Behandlungen, gegen die professionelle Distanzierung der Ärzte, gegen die von ihnen geäußerten Forderungen nach Einordnung in eine zweifelhafte Normalität und nach einem bloßen Funktionieren innerhalb von sozialen Beziehungen. Das Ich / die Stimmen quälen sich nicht nur mit der eigenen Zerrissenheit, sondern befinden sich auch in einem damit verbundenen und zugleich darüber hinausgehenden Kampf: Es geht um die Deutungshoheit in der Frage, was Wahn, was Realität ist. Ist der Zeitpunkt um 4.48 Uhr morgens, an dem das Textsubjekt regelmäßig in den Zustand höchster Wachheit gerät und sich schließlich umbringen will, der Höhepunkt des selbstzerstörerischen Wahns oder vielmehr der Höhepunkt der klaren Einsicht, dass die wahrhaft Kranken die anderen sind und ein Leben in dieser Gesellschaft unmöglich, in dieser »widerwärtigen trüben / Geschichte eines Verstands eingesperrt in ein fremdes / Körperwrack völlig verblödet vom bösartigen Geist der / moralischen Mehrheit«?
Die Frage nach den (Un-)Möglichkeiten der Existenz in einer Gesellschaft beschäftigt auch Valérie Favre. In ihrer Selbstmord-Serie, einer Art enzyklopädischem Projekt, werden verschiedene Arten gezeigt, sich selbst zu töten – mit dem Fön in der Badewanne, durch Heroin, Sprung von der Brücke bzw. vor den Zug, aber auch als Selbstmordattentäterin oder Soldat. Es sind einerseits intime Einblicke in individuelle Todesmomente, die unerklärt und unerklärlich bleiben. Die verschwommene Malweise bezeugt die Unmöglichkeit, solche Vorgänge von außen zu erfassen. Andererseits zeichnen diese Bilder durch die entindividualisierte Darstellung der oft kaum auszumachenden Figuren und durch ihre Präsentation als Teil einer Sammlung auch das Panorama einer Gesellschaft, in der Selbstmorde in Serie geschehen. Konzeptuell gibt es hier Korrespondenzen zu Gerhard Richters Stammheim-Bildserie 18. Oktober 1977 (1988), die in ähnlicher Weise existenzielle, darstellungstheoretische und politische Fragen in sich vereint. Favres Bildserie hat zudem, wie jede Sammlungstätigkeit, eine distanzierte, aber auch eine obsessive Seite: Die Selbstmordbilder kann man in eine kofferähnliche Holzkiste verpacken und mit sich tragen, wie ein Archiv von Möglichkeiten, die eines Tages vielleicht zu realisieren wären.
Ebenso wie bei Kanes Texten ist es bei Favres Bildern unangebracht, sie schlicht als Abbilder ihrer Psyche zu verstehen. Unübersehbar ist der kritische Blick auf eine Gesellschaft, die am Zustandekommen solch krisenhafter Zustände ihren Anteil hat, sowie ein explizites Befragen von Darstellungsmodellen und Erzählstrategien, das das Phantasma unmittelbaren Ausdrucks untergräbt. Das Verhältnis der Malerin zu ihrem Material verbleibt nicht auf der Ebene der Abbildung bzw. Expression, sondern sie nimmt ihren Bildinhalten ebenso wie den malerischen Techniken gegenüber die halbdistanzierte, kommentierende und zugleich involvierte Position einer Spielerin ein.
Valérie Favre spielt auch jenseits des Modells der ›Bewusstseinsräume‹ mit verschiedenen Mitteln der Selbstinszenierung. So im Falle der Lapines Univers. Bei ihnen handelt es sich um (Kaninchen )Häsinnen oder auch Playboy Bunnies, »fiktive Selbstportraits« , die immer neue Versionen der Favre’schen Appropriation Art verkörpern. Diese Wesen sind weniger Verkörperungen des Innenlebens der Malerin, wie ihre Verwendung als Alter Ego nahe legt, vielmehr Agentinnen, mithilfe derer sie sich in die Welt der Fiktion einschreibt und diese zugleich kommentiert. Mehrfach ist darauf hingewiesen worden, dass Favre hier auch auf ›la pine‹ als umgangssprachlichem Ausdruck für den Penis anspielt – »der Pinsel als ein weiblicher Penis in der Hand der Malerin. Ein Zauberstab, der Welten, Figuren und Geschichten zeugt«.
Favres Lapines nehmen den Platz weiblicher Galionsfiguren ein, z.B. der Columbia. Ihr Name – abgeleitet von Christoph Columbus – ist ein Synonym für die USA; als Frauenfigur ist sie eine heute kaum noch gebräuchliche Nationalallegorie. In einer an die Freiheitsstatue angelehnten Variante taucht sie im Vorspann von Columbia Pictures-Filmen auf und wird so auch von Favre zitiert. Sie steht dort ikonisch für das Hollywoodsystem, für eine globale Macht der Bilder und des Geschichtenerzählens.
Columbia ist auch eine Figur mit struktureller Funktion – sie eröffnet den Film, sie zeigt an, dass alles Folgende dem Bereich der Fiktion, des Möglichen statt des Wirklichen angehört. Diese Fiktion wird nun gekapert – der Platz auf dem Sockel wird Columbia streitig gemacht, die Lapines stehlen ihr die Show, erheben Anspruch auf eine eigene Erzählung, deren Inhalt nicht nur innerhalb ihres Bildes, sondern auch in den weiteren Bildern der Ausstellung zu suchen ist. Die Lapines spielen mit dem Repertoire, nehmen Posen von Stars, Monumentaldenkmälern oder von Figuren aus der Kunstgeschichte ein. Zugleich stellen sie das Modell der weiblichen Ikone als Dekor und erotische Attraktion infrage, wie es z. B. von Playboy Bunnies oder weiblichen National- und Tugendallegorien verkörpert wird und so kaum den tatsächlichen Gestaltungsspielräumen von Frauen innerhalb der repräsentierten Ordnungen entspricht.
Im Unterschied zu Columbia und ihren Schwestern sind die Lapines Univers mehr als bloße Galionsfiguren. Sie verhalten sich sowohl der geschlossenen Welt der Fiktion als auch den omnipräsenten Weiblichkeitsfiktionen gegenüber frei – sie spielen mit beidem. Die Häsinnen haben wenig gemein mit Stanislawskis Ideal des authentischen Erlebens, vielmehr erinnern sie in einigen Punkten an die Figur des Tricksters. Tricksterfiguren gibt es weltweit – bekannt sind u. a. der nordamerikanische Coyote, Reineke Fuchs, Till Eulenspiegel oder Harlekin. Auch Hase oder Kaninchen treten häufig als Trickster auf. C.G. Jung, der den Trickster zu den Archetypen zählt, erwähnt als dessen typische Motive »seine Tendenz zu listigen, teils amüsanten, teils bösartigen […] Streichen, seine Verwandlungsfähigkeit, seine tierisch-göttliche Doppelnatur, sein Ausgeliefertsein an Torturen aller Art und – last not least – seine Annäherung an die Gestalt eines Heilbringers.« Er betont das Karnevaleske, oft auch Blasphemische und Obszöne dieser Gestalten, das sie den Favre’schen Mischwesen (Lapines, Majoretten, Faune, Idiotinnen usw.) annähert.
Trickster sind ambivalente Figuren, die oft als Gestaltwandler auftreten und aufgrund ihrer Vieldeutigkeit soziale Ordnungen und Normen verkehren können. Auch die Lapines übernehmen Verkehrungsfunktionen. Einerseits verkehren sie den Alltag in einen fiktionalen Raum, den die Betrachter in der Ausstellung betreten – sie markieren den Auftakt einer Erzählung. Andererseits verkörpern sie die Geste der spielerischen Aneignung einer massenmedialen Erzählmacht durch eine einzelne Malerin. Und sie verkehren das Modell der ikonischen Frauenfigur ins Abgründige. Ihre Piraterie zerstört jedoch nicht das gekaperte Bild: Die Lapines treten auf als knapp bekleidete Bunnies, in gewisser Weise als Überbietung der Columbia – zugleich sexualisiertes Abziehbild und ironisches Selbstportrait der Malerin als Fabelwesen und Actionheldin. Doch auch hier bleibt das Malerische, bleiben die Spuren des Arbeitsprozesses im Farbauftrag sichtbar, können die unscharf konturierten Figuren nie die Transparenz von Ikonen erreichen. Die fast gesichtslosen Lapines wirken undurchschaubar und unheimlich – es ist ganz und gar nicht sicher, welche Pläne diese eifrigen Aktivistinnen schmieden. Es bleibt zutiefst ambivalent, inwiefern sie das Modell der weiblichen Ikone imitieren, parodieren oder es sogar sabotieren, bis zu welchem Grad sie ihm anheimfallen oder ihm Widerstand, vielleicht gar ein alternatives Modell entgegensetzen. Auch darin ähneln sie Trickstern, die in sich verschiedene, oft widersprüchliche – oder vielmehr komplementäre – Züge vereinen können: Schwach und marginalisiert gewinnen sie dennoch trickreich die Oberhand; oft kehren sich ihre teils zerstörerischen Tricks gegen sie selbst, womit sie Täter und Opfer zugleich werden; sie können als göttliche oder teuflische Mittler auftreten, zugleich jedoch sind sie Agenten der Profanierung und des Verlachens von Werten; sie vereinen Gerissenheit und Tölpelhaftigkeit, Komisches und Tragisches in sich.
Die Lapines können wie die Trickster zudem als Struktur-Figuren fungieren – diese sind weniger einer Handlung untergeordnete und innerhalb ihres Rahmens verbleibende Charaktere, als vielmehr Figuren, die sowohl an der Handlung teilhaben, als auch aus der Narration hervor- oder neben sie treten können. Das ist auch bei den Lapines der Fall, die als eine Art Kunstfigur in immer neuen Konstellationen, Verkleidungen und Imitationen von Vorbildern (z.B. als Rockstars mit E-Gitarre) auftreten, jedoch stets als Lapines erkennbar bleiben. Eine der Lapines sitzt in Honig in der Sackgasse gegenüber der Kakerlake, und spielt, der Ausstellung den Rücken zukehrend, Bandoneon. Damit nimmt sie innerhalb der vermeintlichen Leidensgeschichte, die der Rest der Ausstellung erzählt, eine kunstgeschichtlich bekannte Funktion ein:
„About suffering they were never wrong,
the Old Masters: how well they understood
its human position; how it takes place
while someone else is eating or opening a window or just walking dully along“
Die Musik spielende Lapine Univers Columbia ist ein Augenzwinkern inmitten der Düsternis, eine in Pastelltönen leuchtende Öffnung ins Nirgendwo. Struktur-Figuren stehen im Kontakt zu einem Außen der Erzählung und können von diesem aus dem Erzählten gegenüber (eingeschränkt) souverän agieren. Sie sind Spieler in viel umfassenderem Sinne als die Stanislawski’schen Schau-Spieler, denen ein Heraustreten aus der von ihnen verkörperten Fiktion innerer Wahrhaftigkeit versagt bleibt. Sie können in verschiedenen Geschichten auftauchen, deren Gehalte und Voraussetzungen kommentieren und verkehren und dadurch neue Erzählungen generieren. Diese Praxis des Tricksters als Spieler ist der Praxis der Malerin Valérie Favre zum Verwechseln ähnlich.
* Ich danke Valérie Favre und Alexander Koch für die spannenden Gespräche,
aus denen viele Hinweise hier eingeflossen sind. *
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Eine leicht veränderte Version dieses Textes findet sich in: Valérie Favre. Hg. von Monika Machnicki für den Kunstverein Ulm e. V. Kerber, Bielefeld 2008, S. 13-35 (dt./engl./frz.).
Galerie Barbara Thumm, Berlin, 2. Mai bis 7. Juni 2008.
Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Nautilus, Hamburg 1978, These 42 (Hervorhebung im Original).
Vgl. K. S. Stanislawski: Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Band 1. Henschel, Berlin 1993, S. 188ff.
Diesen Vorgang kann man entweder als freien, kreativen Akt verstehen oder demgegenüber betonen, dass der Schauspieler sein eigenes emotionales Repertoire nach den Vorgaben des Stückes ummodelt, sich gewissermaßen fremdgesteuert selbst konditioniert.
Philip Auslander: »Just be your self«. Logocentrism and difference in performance theory. In: Phillip B. Zarilli (Hg.): Acting (Re)Considered. Routledge, London 1995, S. 59-68, hier S. 62.
Kane, S. 221.
David Greig: Einleitung. In: Kane, S. 7-16, hier S. 14.
Kane, S. 249.
Deutlich wird dieser Zusammenhang auch anhand von Noëlle Renaudes Theatertext Ma Solange, comment t’écrire mon désastre, Alex Roux (geschrieben 1994-1997, überarbeitete Neuauflage Éd. Théâtrales, Montreuil 2005). Renaude reagierte auf den Auftrag, einen Monolog zu schreiben, mit einer Montage von fast 2000 Stimmen. Sie wollte die Einheit des Text- und Schauspielerkörpers zerlegen, ihn unmöglich machen, indem sie ihm eine Unzahl von Stimmen und Figuren aufbürdete. Der Schauspieler Christophe Brault, für den Renaude den Text schrieb, brauchte jedoch die Fiktion eines möglichen Körpers, einer Erzählerfigur, um den Text sprechen zu können – also gerade das, was der Text vehement verweigert, dessen Abwesenheit ihn strukturiert. Renaude führte daraufhin den Namen Alex Roux ein, der eine Chiffre für, eine Anrede an Brault ist. Die Pseudo-Figur, die dem Textsubjekt seinen Rahmen gibt, ist demnach auch hier außerhalb des Textes – es ist der Schauspieler. Siehe: Entretien avec Noëlle Renaude conduit par Emmanuelle Borgeon, Joseph Danan et Julie Sermon. In: Joseph Danan, Jean-Pierre Ryngaert (Hg.): Écritures dramatiques contemporaines (1980-2000). L’avenir d’une crise. Études Théâtrales 24/25, Louvain-la-Neuve 2002, S. 231-240, hier S. 233 u. 237.
Greig, S. 14.
Kane, S. 251.
Interview mit der Künstlerin von Sylvie Couderc. In: Valérie Favre. Forêts. Musée de Picardie, Amiens 2003, S. 71-75, hier S. 73.
Greig, S. 7.
Marie-Christine Lesage: Les bords extrêmes: la dramaturgie de Sarah Kane. In: Danan/Ryngaert, S. 143-151, hier S. 150.
Kane, S. 221.
Siehe Carina Plath: Allerleirauh. Zur Arbeitsweise einer Malerin. In: Dies. (Hg.): Valérie Favre. Mise en scène. Verl. f. moderne Kunst Nürnberg u. Westfälischer Kunstverein, Nürnberg 2004, S. 25-50, hier S. 33.
Alexander Koch: Zu den Bildserien Valérie Favres. In: Valérie Favre. Der Dritte Bruder Grimm. Haus am Waldsee u. Revolver, Frankfurt/M. 2006, o.S.
C. G. Jung: Zur Psychologie der Tricksterfigur. In: Ders.: Die Archetypen und das kollektive Unbewußte. Walter, Düsseldorf 1995, S. 271-290, hier S. 273. [Gesammelte Werke 9,1].
Siehe Rudolf Münz: Commedia italiana. In: Ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1998, S. 141-153, hier S. 149ff.
Münz, ebd.
Etwas Ähnliches geschieht – hier allerdings ganz entgegen der Intention – bei Method Actors in der Stanislawski-Tradition: Auch wenn hier das Ziel ist, die möglichst authentische Illusion zu erzeugen, der Charakter der Handlung zu sein, kann der Schauspieler gerade durch die Kunstfertigkeit seiner Verwandlungen zum (Hollywood-)Star werden, der stets durch die Illusion hindurch scheint.
Wystan Hugh Auden: Musée des Beaux Arts. In: Museum der modernen Poesie, Band 1. Eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1980, S. 112ff.